Die Täuschung auffliegen lassen
Neulich bekam ich eine Postkarte von einem Freund, auf der stand: Der Kurs: „Umgehen mit Enttäuschungen“, muss leider ausfallen.
Ha ha, na gut – so lustig ist es nicht immer, enttäuscht zu werden. Das Wort scheint verwandt zu sein mit der Täuschung. Und so ist es sicher auch gemeint. Wir müssen die Täuschung auffliegen lassen, um wirklich gesehen zu werden, so wie wir sind. Ob wir dann immer noch gemocht werden, dafür gibt es natürlich keine Garantie. Aber falls ja, wären der Kontakt und die Zuneigung jedenfalls echter. Wer also so angenommen werden möchte, wie er ist, der sollte sich auch zeigen, wie er ist. In einer längerfristigen Liebesbeziehung halte ich es für unerlässlich, sich authentisch zu zeigen, sich zu offenbaren, sich zuzumuten und anzuvertrauen. Natürlich kann man sich auch selbst täuschen. Z.B. wenn man etwas nicht wahrhaben will.
Den Partner ent-täuschen
Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, ist es häufig so, dass einer von beiden sich bemüht oder glaubt, sich anstrengen zu müssen, um den anderen nicht zu ent-täuschen. Da fallen dann Sätze, wie: „Ich darf ja nicht …“ „Ich muss ja …“, „Wer sagt das?“, frage ich dann. „Na ja, sie, – sonst wäre sie enttäuscht“, bekomme ich dann oft zur Antwort. „Aber ja, ent-täuschen Sie sie! Lassen Sie die Täuschung auffliegen!“, so versuche ich dann ein wenig frischen Wind in die festgefahrenen Glaubenssätze zu bringen.
Unbewusste Glaubenssätze steuern unser Verhalten
Glaubenssätze oder auch Introjekte genannt, sind verinnerlichte Überzeugungen, die wir meist schon in der Kindheit, sozusagen verschluckt haben, ohne sie zu hinterfragen; ohne sie zu kauen, um im Bild zu bleiben. Aber genau das, nämlich sie hochzuholen, auch tatsächlich hochzuwürgen, wenn sich etwas – sorry – „zum kotzen“ anfühlt, und sie dann zu prüfen, ist eine wichtige Aufgabe im Zuge des Erwachsenwerdens.
Liebe für Leistung – ein weitverbreiteter Glaubenssatz
Viele Menschen mussten sich in ihrer Kindheit um die Gunst von Mutter oder Vater bemühen. Nicht jeder konnte sich bedingungslos geliebt fühlen. Und, ich will hinzufügen, gelegentlich eine Erwartung an einen Heranwachsenden zu stellen, ist wichtig und gesund. Aber wenn geliebt werden nur mit Liebe für Leistung verbunden wurde oder dafür, dass man die Bedürfnisse anderer befriedigt, dann hat man einen unguten „Glaubenssatz“ mitbekommen. „Ich darf ja nicht, ich muss ja.. „ ,dem liegt zugrunde: „Ich darf dich nicht enttäuschen, sonst liebst du mich nicht mehr.“ Und wenn man so denkt, dann scheint darunter wiederum noch ein Glaubenssatz verborgen zu sein: “So wie ich wirklich bin, bin ich nicht gut genug, so bin ich nicht liebenswert.“ Uff. Mit so einem verinnerlichten Programm durchs Leben zu gehen, kann überaus mühsam sein. Und es ist auch sehr traurig.
Der liebevolle Blick auf uns selbst
Die Stimme unserer Mutter oder unseres Vaters ist ein Teil von uns selbst geworden. Wenn wir erkennen, dass dieser Teil uns mehr schadet, als hilft, können wir beginnen, ein gesünderes Programm in uns zu installieren. Hilfreich wäre eine liebevolle Zuwendung zu uns selbst. Nur dann kann man sich auch selbst kleine Missgeschicke oder Verfehlungen verzeihen. Das braucht eben genau das: Den liebevollen Blick auf unser Inneres Kind; auf das Kind, das wir einmal waren und das in jedem von uns schlummert.
Sich trauen, sich anzuvertrauen. Und mutig sein, sich zuzumuten.
Freundlich auf sich selbst zu blicken und nicht alles perfekt machen zu müssen, ist eine Voraussetzung dafür, sich selbst, so wie man ist, auch dem Partner zuzumuten, sich ihm zuzutrauen und sich ihm anzuvertrauen.
Wir machen uns selbst Druck
Wenn sich jemand nun lange anstrengt oder zusammenreißt, die eigenen Bedürfnisse in einer Beziehung immer hinten an stellt, desto stärker wird sein Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit werden. Dass die eigentliche Unterdrückung im eigenen Innern stattfindet, wird häufig nicht wahrgenommen. Es scheint, als wäre tatsächlich der Andere Schuld an dem Gefühl der Enge.
Das Innere Kind
Daher mag ich die Bezeichnung: „Inneres Kind“, sehr gerne. Sie verdeutlicht die Schieflage in den hilflosen Opfersätzen. Z.B. „Ich darf ja nicht..“ aus dem Mund eines gestandenen Mannes, der vielleicht bei der Arbeit ein angesehener Geschäftsführer ist, mit einer Vielzahl an Mitarbeitern, bei denen er sich durchzusetzen versteht, wirkt schräg. Für die Frau in diesem Fall ist die Rolle der Bestimmerin und Unterdrückerin meist sehr
unangenehm. Sie möchte kein Diktator sein und verbietet ihrem Partner auch nichts. Wie könnte sie? Sie fühlt sich vielleicht in eine Art Mutterrolle hineingedrängt. Viel lieber wäre ihr ein Partner auf Augenhöhe. Einer, der selbst weiß, was richtig und falsch ist. Einer, der Ja und Nein sagen kann, ein Erwachsener, der sich nicht aus der Verantwortung schleicht.
Das Übertragungs-Phänomen
Es handelt sich in diesem Fall um eine Projektion, eine sogenannte Übertragung. Der Mann sieht in seiner Frau, seine strenge Mutter oder den strengen Vater, von der oder dem er sich Liebe in Form von Anerkennung erhofft. Er sehnt sich so sehr nach dieser Art von Zuneigung, weil er Liebe nicht anders kennengelernt hat, als in Form von Belohnung. Man darf doch seine Mama nicht ent-täuschen. Man ist womöglich ein Versager, wenn man den Erwartungen des Vaters nicht entspricht. Solche und ähnliche Glaubenssätze sind leider weitverbreitet. Ich möchte wirklich allen Mut machen, zu ent-täuschen. Aber besonders liegen mir hier die Männer am Herzen. Es scheint mir ein wichtiger Teil der männlichen Emanzipation zu sein, für diese Leistungsintrojekte mehr Bewusstsein zu entwickeln!
Nicht übertreiben
Damit Sie jetzt nicht allzu enttäuscht diesen Artikel verlassen, möchte ich schnell noch etwas klarstellen: Es geht nicht darum, „das Kinde mit dem Bade auszuschütten.“ Es spricht überhaupt nichts dagegen, freundlich zueinander zu sein. Auch sind Kompromisse manchmal unerlässlich. Wir dürfen uns auch manchmal Mühe geben. Es geht darum, wie meist, weder in die eine, noch in die andere Richtung zu übertreiben. „Authentizität ohne Taktgefühl ist Mist und Taktgefühl ohne Authentizität auch.“ (Schulz von Thun) Also: Ent-täuscht euch! Lasst die Täuschung auffliegen. Ehrlichkeit ist in der Liebe unerlässlich, auch wenn sie nicht immer Liebe als Reaktion hervorruft. Du kannst nur geliebt werden, so wie du bist, wenn du dich auch so zeigst, wie du bist. Und das Gute: Da du ohnehin niemand anderen darstellen musst, als dich selbst, brauchst du dich auch nicht zu verbiegen.